Sonntag, 10. August 2008

Vergleich zwischen Einführung von "Die Gabe" VS Einführung von "Das wilde Denken"

Wenn ich zwei Texte vergleiche, unter welcher Fragestellung sollte ich dies tun? Der Vergleich ist immer ein schwieriges Unternehmen, denn um zwei Dinge – egal ob zwei Schuhe oder zwei Texte – miteinander zu vergleichen, bedarf es der Festlegung von Faktoren, die verglichen werden können. Dies kann zu mehreren Problemen führen: Angenommen ich will einen Wanderschuh mit einem Sportschuh vergleichen, so muss ich erst wissen, was durch den Vergleich herausgefunden werden soll.
Eine Produktionsfirma wird wissen wollen, mit welchen Schuhen sie den größten Profit generieren kann, demnach werden andere Kriterien herangezogen werden, als, sagen wir, bei einem ärmlichen Armenier, der sich nur alle zwei Jahre neue Schuhe kaufen kann. Die Firma wird auf Material und Produktionskosten sowie die allseits einkalkulierte „Nachfrage“ achten, um ihren Absatzmarkt bestimmt zu glauben; während der Armenier wahrscheinlich Lebensdauer, Preis und soziales Prestige vergleichen wird. Diesem Gedankengang folgend, ist das Gegenüberstellen immer eine Frage der Absicht und des Anlasses. Da ich aber weder Schuhfabrikant noch armer Armenier bin, sondern zwei Texte vergleichen will, muss ich meine Bedürfnisse von der harten Realität in andere Sphären verlegen. Trotzdem will ich praktisch bleiben, stelle also die simple Frage, welcher der beiden Texte praktikabler für den Menschen ist – es handelt sich einerseits um die Einführung in „Das wilde Denken“ von Lévi-Strauss, erschienen 1962; und andererseits um die Einführung in dem 1950 erschienenem Buch von Marcel Mauss „Die Gabe“.
Bei Praktikabilität denke ich vor allem an zwei Eigenschaften: Wie sind die Texte aufgebaut und welcher Aufbau führt zu einem besserem Verständnis der Botschaft; und zweitens, welche Botschaft der Autoren, kann praktischer, also im Leben und täglichem Handeln, für das Seelenwohl dienlich eingesetzt werden.
Durch diese Kriterien wird die Beurteilung sehr subjektiv, trotzdem werde ich versuchen, meine Argumente nachvollziehbar darzustellen.
Die beiden Texte sind durch unterschiedliche Dinge verbunden. Lévi-Strauss war ein Schüler und Verwandter von Marcel Mauss. Zwischen den Veröffentlichungen der beiden Werke liegen etwas mehr als zehn Jahre, was nicht all zu viel ist, aber doch reicht um vieles anders werden zu lassen; und als Folge dieser Umstände ergibt sich, dass eine ähnliche Denkschule - oder sagen wir lieber Denkkultur - Mauss und Lévi-Strauss beherrschen.
Auch wenn Lévi-Strauss noch im zweiten Weltkrieg auf dem amerikanischen Kontinent neue Erfahrungen, und im speziellen in New York neue Gedankenansätze kennen und nutzen gelernt hatte, verbindet die beiden Autoren (so scheint es mir), die intellektuelle und gutbürgerliche Art der Pariser Intellektuellen.

Mauss wird 1872 geboren, „lernte“ unter anderem bei Émile Durkheim, dessen Neffe er war. Er erlebte die industrielle und die kommunistische Revolution, den ersten und zweiten Weltkrieg, verlor viele Freunde und Kollegen an dieser Sinnlosigkeit, und stirbt 1950 in Paris. Mauss hat in einer Zeit gelebt, in der der Wechsel, den die Gesellschaft machte und weiterhin macht, stark spürbar wurde (der Kontrast von Alt und Neu war damals gegenwärtiger als heute, man muss sich nur vorstellen, was die einfahrende Eisenbahn für ein Spektakel gewesen war); er hat gesehen, wie viel Schmerz dieser Wechsel mit sich bringt und wie dumm es wäre diese Anstrengung (die so viel Glück verschlingt, und so viel Leid hervorbringt), nicht zu nutzen, um eine „bessere“ Welt aufzubauen. Ich denke, dass diese Faktoren auch sein wissenschaftliches Streben nach Erkenntnis bestimmten.

„Die Gabe“ handelt von der Tauschwirtschaft und den sozialen sowie rituellen Regeln, die mit dieser einhergehen. Mauss will beweisen, dass „archaische Gesellschaften“ sehr wohl ein „Wirtschaftsleben“ hatten, dieses aber mit anderen Gesetzmäßigkeiten als den kapitalistischen ausgestattet war. Und er will aufzeigen, dass der Tausch (hauptsächlich durch Potlatsch oder Kula), für eine Gesellschaft, wesentlich verträglicher ist, als es die kapitalistische Marktwirtschaft ist.
Er benutzt dazu den Begriff „totales gesellschaftliches Phänomen“, jener ist auch eine Methode, die anhand eines einzelnen Phänomens, die Gesamtheit der gesellschaftlichen Strukturen zu klären versucht. Alles kreist, wie die Planeten um die Sonne, um dieses „totale Phänomen“
Abgesehen davon, dass die Einführung von Mauss wesentlich kürzer ausgefallen ist, als die von Lévi-Strauss, gibt es noch andere Unterschiede: Mauss arbeitet mit einer gut verständlichen Sprache und gibt den Wirren der Wissenschaft hauptsächlich in den Fußnoten Platz. Der Haupttext bleibt dadurch klar und man kann der Argumentation ohne Ablenkung folgen.
Weiters ist die Einführung durch vier Zwischenüberschriften aufgeteilt (z.B. Programm, Methode), das erleichtert ebenfalls das Verstehen für den Text. Auch ist die grafische Aufbereitung ein gutes Hilfsmittel, zum Beispiel ist die exakte Fragestellung kursiv gedruckt (S18).
Kurz gesagt: nach der Einführung weiss man, auf was man sich mit diesem Buch einlässt (zumindest ist es nicht weniger als die Einführung erwarten lässt) und das ist, meiner Meinung nach, auch der Sinn einer Einführung.

Anders sieht das für mich bei Lévi-Strauss aus, wobei man zu seiner Verteidigung sagen muss, daß er sein erstes Kapitel nicht „Einführung“ nennt, sondern „Die Wissenschaft vom Konkreten“ nennt. Als ich diesen Titel las, war es leider nicht sehr konkret für mich was damit gemeint war. Abgesehen davon, das Lévi-Strauss ein wesentlich fachspezifischeres Vokabular benützt, gliedert er das, was Mauss in seinen Fußnoten abhandelt, in den Haupttext ein. Dadurch wirkt der Text dichter und komplexer, aber dafür ist es auch schwierig eine klare Argumentationslinie „herauszulesen“. Weiters arbeitet Lévi-Strauss in diesem Kapitel, mit einem Konglomerat von anderen Autoren und streut diese, manchmal als Hilfsmittel, manchmal als Bestätigungen für sein Geschriebenes, in den Text hinein. Dafür ist der Text dieses Kapitels, meiner Meinung nach, der charmanteste Teil des gesamten Buches: Philosophisch, sehr geistreich, manchmal etwas angespannt geschrieben, aber ansonsten wirklich eine inspirierende Fundgrube. Hier wird, im Gegensatz zu Mauss, aber etwas versprochen (wenn man dieses Kapitel als Einleitung betrachtet), was das Buch im Weiteren, zumindest für mich, nicht halten kann. Nach diesem ersten Kapitel habe ich mehr erwartet, als gekommen ist; bei Mauss war das eher umgekehrt.

Lévi-Strauss hat die Kriegswirren mit etwas Abstand miterlebt; und der „große Wechsel“ zur Industriewirtschaft, vor allem zur Marktwirtschaft, war für ihn nicht so kontrastreich, wie für Mauss. Er wurde 1908 geboren, kam in den 40er Jahren nach New York (er war aus Frankreich geflohen). Er entwickelte seine Theorien, in einer Zeit, in der eine neue Revolution aus den Kinderschuhen wuchs: Die Welt der Computer, der Nullen und Einsen, die vor allem mit dem Hintergrund der Rationalisierung aller Lebensbereiche, die Hoffnung vieler zukünftiger Probleme war. Und mit der weiter anhaltenden Faszination dieser neuen Welt, die damals mit Lochkartensystemen und Tonbändern arbeitete, wurde auch die Idee des Strukturalismus bemüht. Dies war sicherlich auch ein Grund warum dieser die unsichtbaren Grenzen der anthropologischen Disziplin überwand.
Ich glaube, Lévi-Strauss war in seinem Denken zwischen zwei Welten hin und her gerissen. Auf der einen Seite war er der Schule von Mauss verpflichtet (und somit der Pariser Intellektuellen im Speziellen und der europäischen Philosophie im Allgemeinen), auf der anderen Seite wollte er auf diesen neuen Zug der Rationalität aufspringen um seinen Beitrag zu leisten.

Die beiden Texte erzählen somit unterschiedliche Geschichten und enthalten dadurch unterschiedliche Wahrheiten, Träume und Hoffnungen, obwohl sie so nah beieinander liegen. Praktischer und verständlicher scheint mir das „Konzept“ welches Mauss verfolgte. Wichtig erscheinen mir beide. Depressiv könnte mich Lévi-Strauss und sein Strukturalismus machen, Hoffnung und Zuversicht hat mir Mauss gemacht. Was aber nun besser für den Menschen ist, was praktikabler für den Wissensdurstigen, das muss wohl jeder für sich selbst entscheiden.

Mauss, Marcel [1950] 1990. Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischien Gesellschaften. Frankfurt A.M.: Suhrkamp.

Lévi-Strauss, Claude [1962] 1973. Das wilde Denken. Frankfurt A.M.: Suhrkamp.

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